Ich beobachte, wie Anouk ganz in ihrem Element ist. Draußen in der Natur sein, das liebt sie. Und dabei in Gemeinschaft sein. Der Höhepunkt der Drachinzeit, das Ritualfest auf dem Gelände der Wildnisschule im Fläming, erfüllt alle ihre Wünsche.
Freiraum für den Rhythmus des Lebens und Zeit für Rituale, für Abschiede und Übergänge, ist für Kinder ebenso wie für uns Eltern wichtig. Von diesem Freiraum nehmen wir uns noch zu wenig in unserer Gesellschaft. Aber es ist möglich. Die Drachinzeit ist ein Beispiel dafür. Von Frühling bis Herbst treffen sich Mädchen, begleitet von Eltern und Patinnen. Viel Zeit füreinander, Zeit für die innere Reise vom Mädchen zur jungen Frau.
Noch sehe ich mich mit Anouk im Feld sitzen. Verbunden mit einem roten Faden und Zeit für den Abschied und das symbolische Durchtrennen des Bandes. Meine Emotionen, eine Mischung aus tiefer Berührtheit und Glück, fließen aus mir heraus. Wir sprechen über Dinge miteinander, die noch nie ausgesprochen wurden.
Hier ist Platz für alles, was jetzt sein will. Die Familien sitzen verstreut unter Bäumen, auf der Wiese, im Feld. Väter, Mütter, getrennte Eltern. Alle haben jetzt die Zeit, auf die vergangenen Jahre, auf das gemeinsam erlebte zurückzuschauen.
Der Takt der Trommel erinnert uns an den Abschied. Anouk wandert den Hügel hinauf und geht durch ein Tor in eine neue Erfahrungswelt, mit acht anderen Mädchen, ihren ausgewählten Patinnen und dem Team. In vier Tagen empfangen wir sie wieder, unten am Berg und feiern mit allen Familien.
„Vier Tage eine Welt nur mit Wertschätzung – das ist so stärkend.“ (O-Ton einer Patin)
In den Monaten vorher haben wir uns, Mutter und Tochter, zu den Treffen oft gemeinsam auf den Weg gemacht. Da wir etwas weiter weg von Berlin wohnen, war es ein großes Geschenk, viel Zeit auf den Fahrten füreinander zu haben.
Jetzt leuchten die Sterne. Anouk sieht sie durch die hohen Kiefern, nachdem sie sich ihren Schlafplatz auserwählt hat. Es ist die dritte Nacht der Ritualzeit. Hier liegt sie in der Hängematte, umgeben von bunten Tüchern. Ein kleiner Altar ziert den Waldboden. Aus langen Gräsern hat sie sich einen Vorhang als Eingang geknüpft. Die Mädchen verbringen diese Nacht draußen für sich allein.
Wir alle brauchen Rituale
Für die meisten Mädchen ist die Nacht eine Herausforderung. Sie wachsen ein Stück damit über sich hinaus. Sie bleiben noch lange bis in den nächsten Tag hinein an ihrem Ort. Die Patinnen haben sich auch einen eigenen Platz für die Nacht gesucht und bringen ihren Mädchen morgens ein wohltuendes Frühstück: Eine Schale warmer Reis mit Datteln und Nüssen.
„Wir alle brauchen Rituale“, sagt Anouk’s Schwester bestimmt und nachdenklich, als wir nach dem Empfang unserer Töchter am Ende des Festes auf das Gelände durch den Torbogen spazieren. Wir helfen, die Schlafstatt weit hinten im Wald abzubauen und einzupacken.
In einem sanft hügeligen Gelände stehen hier Apfelbäume einer alten Plantage beieinander, aus allen Lebensstufen. Auf der Wiese steht in der Mitte eine rote Jurte, das Gemeinschaftszelt. In der Nähe ist die Zeltküche. Eine Badewanne steht mitten auf der Wiese. Früchte liegen wie ein Stillleben auf einer Holzbank unter einem Birnbaum.
Über sich hinauswachsen
„Wer eine Nacht draußen hier allein verbracht hat, wird noch ganz andere Mutproben im Leben bestehen.“ So erzählen es Eltern im Abschlusskreis ein paar Wochen später. Es ist das offiziell letzte gemeinsame Treffen, doch wir wollen uns im nächsten Jahr wiedersehen. Mütter, Väter – die Mädchen auch. Wir wollen wieder Freiraum erleben, einfach in und mit der Natur sein, füreinander da sein.
Die Drachinzeit hat uns glücklich gemacht. Für mich hält das Glück an. Die Drachinzeit ist jetzt ein Teil von uns. Wir nehmen sie mit nach Hause.
Entdeckt haben wir die Drachinzeit durch den Film „Drachinzeit – von Wurzeln und Flügeln“ von Sil Egger auf dem Fair Camp. Dank eines erfolgreichen Crowfundings konnte der Film produziert werden. Die Doku ist mehrfach ausgezeichnet.
INFOS
Wer sind die Patinnen? Zu Beginn der Drachinzeit wählen die Mädchen sich ihre Patin aus, aus ihren Familien oder von Freunden. Manchmal sind des auch Frauen, die sie noch nicht so gut kennen. Die Patinnenrolle ist eine besondere. Sie sind vier Tage lang zum Höhepunkt der Drachinzeit mit in der Natur, kochen, holen Wasser, schlafen in Zelten oder auch unter freiem Himmel und sind einfach immer für die Mädchen da.
Der Ablauf: Frühjahr bis Herbst, mit Infoabend, Elternabend und 1. Treffen der Mädchen, 2. Treffen (1 Tag), ein Wochenende (2 Tage), 2. Elternabend, die Ritualzeit (4 Tage), 3. Elternabend mit Nachtreffen. Die Mädchentreffen haben jeweils unterschiedliche Themen, wie „Meine Familie“, „Vertrauen und Grenzen, Sehnsucht und Sucht“ oder „Ich in meinem Körper“.